Flüchtlingskrise deckt Schwächen des deutschen Staates auf

Die Flüchtlingskrise überfordert den Staat. Behörden arbeiten aneinander vorbei – mit gravierenden Folgen für die innere Sicherheit. In Brandenburg wird gegen einen terrorverdächtigen Syrer ermittelt.
Flüchtlinge überqueren die deutsch-österreichische Grenze zwischen Salzburg und Freilassing

Was muss sich Thomas de Maizière in diesen Tagen nicht alles anhören: „Schlechte Vorbereitung“, „fehlende Ordnung“, „Tatenlosigkeit“. Der angeschlagene Bundesinnenminister kontert dann stets mit der Ausnahmesituation seit Anfang August. Seitdem sei „erstklassig improvisiert“ worden, verteidigte sich der CDU-Politiker bei „Anne Will“ in dieser Woche. Es gebe „veritable Sicherheitsgründe“ zu gucken, wer da eigentlich ins Land komme. Man brauche Fingerabdrücke, den Abgleich mit Polizeidateien und auch Befragungen von Flüchtlingen. Man müsse die Ordnung wieder herstellen: „Das ist alles nicht mit Beifall am Münchner Hauptbahnhof getan.“

Eines allerdings verschwieg der Ressortchef: Der Staat ist schon dann heillos überfordert, wenn man von den Flüchtlingen bloß die Fingerabdrücke nehmen und sie geordnet registrieren will. Es gibt Schwachstellen im System, die längst behoben sein müssten – angesichts der Flüchtlingsströme und der desolaten Situation, die sich bereits im vergangenem Jahr abzeichnete. Stattdessen wird improvisiert, und das vor allem von den Bürgern. Der Staat hingegen scheint dem Flüchtlingsandrang weitgehend hilflos ausgeliefert. Das sorgt nicht nur für humanitäre Probleme, sondern könnte schon bald auch die innere Sicherheit im Land gefährden.

Die Missstände nehmen teilweise obskure Züge an. Ein besonders anschauliches Beispiel ist die EDV-Ausstattung jener Behörden, die den Flüchtlingszustrom gemeinsam managen und überwachen müssten. Bundespolizei und die Länderpolizeien sowie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF, können bis heute keine Daten elektronisch austauschen.

Der Grund: Die Computersysteme wurden nie aufeinander abgestimmt. „Aktuell benutzen die verschiedenen Behörden für die Bearbeitung der Asylverfahren unterschiedliche IT-Systeme“, bestätigte das Bundesinnenministerium. Schlimmer noch: Man weiß nicht, ob sich der Missstand überhaupt beheben lässt. Derzeit wird eine „Machbarkeitsstudie“ erstellt. Darin gehe es um die „elektronische Kommunikation über universelle Schnittstellen mit anderen Behörden, darunter BAMF, Bundespolizei und Landesbehörden“, heißt es im verschwurbelten Amtsdeutsch.

„Unglaubliche Doppelarbeit“

Die Mitarbeiter des völlig überlasteten BAMF müssen deshalb bereits erhobene Daten der Polizei neu in die Computer eingeben. „Die Bundespolizei kann Aufgriffsmeldungen von Flüchtlingen und die Ergebnisse von erkennungsdienstlichen Behandlungen bisher nur per E-Mail an das BAMF übermitteln“, sagt ein hochrangiger Bundespolizist. Die BAMF-Angestellten müssten diese Daten dann in ihr eigenes IT-System übertragen. „Das ist eine unglaubliche Doppelarbeit“, empört sich der Polizist.

Das Präsidium der Bundespolizei in Potsdam gab auf Nachfrage zu, was im digitalen Zeitalter nicht sein dürfte: „Warum ein entsprechender Übergang zu den Systemen des BAMF, der eine Kompatibilität sicherstellen würde, bisher nicht geschaffen wurde, ist der Bundespolizei nicht bekannt.“ Entsprechend groß ist der Druck auf die Behördenleitung. Am vorigen Donnerstag trat BAMF-Präsident Manfred Schmidt zurück – wobei er nachvollziehbare private Gründe für seinen Abgang anführen konnte.

Nun entlädt sich der Zorn vor allem auf de Maizière. Warum stapelten sich die Asylanträge im BAMF schon, bevor sich die große Flüchtlingswelle anbahnte? Und wie kann der Staat es zulassen, dass nun viele Menschen unregistriert ins Land strömen, während beispielsweise die Vereinigten Staaten monatelang überprüfen wollen, welche Flüchtlinge sie ins Land lassen – ausdrücklich mit dem Verweis auf die Sicherheit?

Solches Missmanagement lässt angesichts des ungeordneten Flüchtlingsandrangs Schlimmes befürchten. Etwa, dass terroristische Vereinigungen ihre Leute nach Deutschland schleusen könnten. Gelegentliche Fahndungserfolge bestätigen eigentlich nur, dass die Gefahr real ist. Wie im Fall des Marokkaners Ayoub M., der einem islamistischen Netzwerk in Spanien angehört und Anfang August festgenommen wurde. Der 21-Jährige hatte Mitte Juli in einer Flüchtlingsunterkunft in Ludwigsburg nahe Stuttgart einen Asylantrag gestellt – unter falschem Namen und Geburtsdatum. Ayoub M. hatte nach Deutschland fliegen können, bevor die spanischen Ermittler in einer Großrazzia 50 Mitglieder der Gruppierung festsetzten.

IS-Anhängerschaft unterstellt

Konkrete Fälle von Extremisten, die der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) geschickt hat, sind in Deutschland bislang nicht bekannt. Es gebe nur „Anhaltspunkte“, sagt ein erfahrener Staatsschützer. „Meistens handelt es sich dabei um Anschwärzungen und Denunziationen unter den Flüchtlingen – wenn jemand missfällt, wird er zum IS-Terroristen erklärt.“ Auch in sozialen Netzwerken tauchten in den vergangenen Wochen mehrfach Fotos von angeblichen Dschihadisten auf, die sich nun in Europa als Asylbewerber aufhalten sollen. Das Bundeskriminalamt (BKA) und mehrere Landespolizeien sind diesen Hinweisen nachgegangen.

Das Ergebnis: Meist sind es plumpe Fälschungen oder Verwechslungen, die oft von Rechtsextremen im Internet verbreitet werden. Das BKA ermittelt immerhin gegen einen terrorverdächtigen Syrer in Brandenburg. Der Flüchtling hatte offen erzählt, für den IS gekämpft und auch getötet zu haben. Mitbewohner filmten die Gespräche heimlich mit ihren Handys.

Das BKA untersucht nun, ob der Mann tatsächlich für den IS aktiv war. Aber ein Staatsschützer wiegelt ab: „Es sieht bis jetzt nicht so aus, als würde der IS gezielt Terroristen nach Europa schleusen.“ Die Dschihadisten wollten vor Ort einen Staat aufbauen: „Und es gibt genug IS-Anhänger hierzulande, die Anschläge verüben könnten.“ Da müsse man niemanden einschleusen.

Ein Anlass zur Entwarnung ist das nicht. Weit ist man davon entfernt, sich an jenes Verfahren zu halten, das die Behörden vorschreiben. Demnach soll ein Flüchtling sofort erfasst werden. Vorgesehen ist zudem, dass die Identität dann vom Bundesamt für Verfassungsschutz, dem BKA und den Landeskriminalämtern überprüft wird. Doch auch diese Behörden sind überlastet.

Tausende nicht erfasste Personen

Eine Umfrage der „Welt am Sonntag“ ergab, dass vielerorts zum Teil mehrere Hundert Personen in Heimen ohne Registrierung aufgenommen wurden. Nur wenige Länder wie Sachsen-Anhalt oder Sachsen kommen noch nach. Allein Niedersachsen geht von etwa 7000 nicht erfassten Personen aus. Viele Länder reden von einem „Registrierungsstau“. Verschärft wird dies dadurch, dass viele Flüchtlinge ihre Identität verschleiern. Afghanen, Pakistani und selbst Schwarzafrikaner geben sich mittlerweile als Syrer aus. Bereits eine Prüfung Anfang 2015 hatte ergeben, dass 73 Prozent der Personen in laufenden Asylverfahren angegeben hatten, dass sie keine Ausweispapiere besäßen.

Erfolgreich scheint nur die Jagd nach Schleusern zu sein – zumindest auf den ersten Blick. Rund 3000 Ermittlungsverfahren haben die Staatsanwaltschaften bundesweit eingeleitet, davon die meisten in Bayern. Das ergab eine Umfrage dieser Zeitung bei den 16 Länderministerien für Justiz. Dabei nahm die Zahl der Festnahmen im August rasant zu. Die Bundespolizei bestätigte 440 neue Schleuserfälle. Aber ein wirklicher Erfolg ist das nicht. Denn fangen würde man vor allem die „kleinen Fische“, sagt ein Staatsanwalt. An die Hintermänner, die Schleuserbosse im Ausland, komme man so gut wie nie heran.

Autor: rsvarshan

Rechtssachverständiger , der gelernt hat seinen Kopf zu benutzen.

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