Die einstigen deutschen Volksparteien ertrinken in Beliebigkeit. Sie haben keine eigenen Themen mehr, sondern nur noch ein Ziel: die AfD zu verhindern. Um überhaupt noch regieren zu können, flüchten sie sich in konturlose Dreier-Bündnisse.

Landtagswahl um Landtagswahl ist es dasselbe Trauerspiel. Die Parteien der grossen Koalition verlieren Stimmen, die Wähler bringen ihre Unzufriedenheit mit der Dauer-Allianz zum Ausdruck, und dann passiert: nichts. Ungerührt regiert die Berliner Koalition weiter. Die Beinahe-Niederlagen der CDU in Sachsen und der SPD in Brandenburg werden in Siege umgedeutet, weil in beiden Ländern die AfD «nur» auf dem zweiten Platz landete.
Dass weder in Potsdam noch in Dresden die bestehenden rot-roten und rot-schwarzen Regierungsbündnisse eine Mehrheit fanden, erscheint in dieser Optik als blosser Betriebsunfall. Schliesslich stehen die Grünen als Mehrheitsbeschaffer bereit. Es gilt die Devise: weitermachen wie bisher – auch in Berlin.
Die Tücken der totalen Polarisierung
Weitermachen wie bisher? Der AfD ist es gelungen, beiden Wahlen ihren Stempel aufzudrücken. In Sachsen wie Brandenburg inszenierten sich die Ministerpräsidenten Kretschmer und Woidke als das letzte Aufgebot im Kampf gegen die AfD. Sie hatten damit Erfolg. Welche Tücken die totale Personalisierung und Polarisierung aber mit sich bringt, zeigen die Resultate der CDU in Brandenburg und der SPD in Sachsen.
Wo die einstigen Schwergewichte des deutschen Parteiensystems nicht den Ministerpräsidenten stellten, gingen sie unter. Mit 8 und 16 Prozent sind sie eines jedenfalls nicht mehr: Volksparteien. Es genügt eben nicht, seine Existenzberechtigung allein aus der Verhinderung der AfD zu ziehen. Wer seinen Wahlkampf gänzlich auf die AfD ausrichtet, agiert rein defensiv. Er überlässt es der Gegenseite, die Themen zu setzen. Ausserdem erhalten die Rechtspopulisten so eine Bedeutung, die sie nicht haben. Die grosse Mehrheit der Brandenburger und der Sachsen hat schliesslich nicht für sie gestimmt.
Im Osten der Bundesrepublik hat sich das Konzept der Volkspartei überholt. Hier gibt es nur noch regionale Champions und ein heterogenes Verfolgerfeld. Im Westen sind die Verhältnisse nicht so fluid. Das Protestpotenzial ist deutlich kleiner als jenseits der Elbe, wo sich viele Wähler als Bürger zweiter Klasse verstehen. Aber auch im Westen wird die traditionelle Parteienlandschaft weiter erodieren, wenn Union und Sozialdemokraten keine eigenen Themen finden und sich darauf verlassen müssen, dass der Popanz Rechtspopulismus schon genügend Abschreckungswirkung entfaltet.
Die AfD profitiert von der Beliebigkeit der anderen Parteien
Das Rezept maximale Polarisierung bei gleichzeitig maximaler Beliebigkeit ist auf Dauer gefährlich. In Brandenburg wie Sachsen sind künftig nur Dreierbündnisse möglich. Sie beruhen nicht auf gemeinsamen Überzeugungen und einer gemeinsamen politischen Agenda, sondern sind ausschliesslich von den Verhältnissen diktiert.
Solche Konturlosigkeit erleichtert der AfD ihr Geschäft. In Brandenburg beispielsweise müssen sich SPD und Linkspartei, die den Ausstieg aus der Braunkohle verzögern wollen, jetzt mit den Grünen verständigen. Für die Öko-Partei hingegen kann das Ende der schmutzigsten aller Formen von Stromerzeugung nicht schnell genug kommen. In Sachsen muss nun der konservativste CDU-Landesverband neben der SPD auch noch mit den Grünen koalieren. Da sind Wischiwaschi und Dauerstreit programmiert.
Die Raison d’être der Volksparteien ist es aber, tragfähige Lösungen vorzulegen. Das unterscheidet sie von Protestparteien, die Probleme nicht beheben, sondern möglichst lange bewirtschaften. Auf Bundesebene sind als Alternative zur grossen Koalition ebenfalls nur Dreierbündnisse denkbar, sei es die Union mit FDP und Grünen oder die Grünen mit SPD und Linkspartei als Juniorpartnern.
In Berlin regieren Klempner der Macht
Die Beliebigkeit wird, sofern dies überhaupt noch möglich ist, auch in Berlin wachsen. Das deutsche Parteiensystem hat offenkundig die Fähigkeit verloren, überzeugende Mehrheiten mit echtem Gestaltungswillen hervorzubringen. Das ist die eigentliche, beunruhigende Botschaft, die von den jüngsten Landtagswahlen ausgeht.
Drei-Parteien-Koalitionen haben den Hang zu Formelkompromissen. Das gilt umso mehr, als bei der Union wie den Sozialdemokraten nicht Überzeugungspolitiker das Sagen haben, sondern Klempner der Macht. Sie können eine Politik vertreten, aber auch deren genaues Gegenteil. Ihr Ziel ist es, Mehrheiten zu konstruieren. Die Richtung diktiert ihnen der Zeitgeist.
Das Kölner Karnevalsmotto «Es ist noch einmal gutgegangen», der heimliche Slogan von Union wie Sozialdemokraten, ist auch noch aus einem anderen Grund die letzte Haltestelle vor dem Untergang. Die einstigen Volksparteien sind Kräfte der Vergangenheit, nicht der Zukunft. Die SPD hat ihr Alleinstellungsmerkmal, die Partei der urbanen Milieus zu sein, verloren. In Leipzig und Dresden holten die Grünen drei Direktmandate, auch in Potsdam gewannen sie einen von zwei Wahlkreisen. In den drei Grossstädten errang die SPD nur ein einziges mageres Direktmandat.
Die AfD wiederum ist nicht die Partei der abgehängten Wende-Verlierer, sondern der Berufstätigen, die mitten im Leben stehen. In Sachsen wurde sie in allen Altersgruppen von 18 bis 59 stärkste Partei, in Brandenburg musste sie sich nur bei den ganz Jungen den Grünen geschlagen geben. SPD und CDU hingegen liegen nur bei Wählern ab 60 vorne. Sie sind die Grauen Panther des Parteiensystems. Auch im Westen punkten sie besonders bei Rentnern, während die Jungen eher zu den Grünen tendieren.
Die grosse Koalition macht aus Erschöpfung weiter
Die AfD und die Grünen sind nicht nur die ideologischen Antipoden der deutschen Politlandschaft, sie treiben auch alle anderen Gruppierungen vor sich her. Die einen sind die Partei der akademischen Linken und Linksliberalen mit gut gefülltem Bankkonto. Die AfD versammelt die Konservativen um sich, die auf den Nationalstaat als Schutzraum vertrauen und jeder Veränderung misstrauen.
Die Parteien der grossen Koalition in Berlin haben eigentlich keinen Anlass, die jüngsten Wahlergebnisse schönzureden. Sie sind jedoch zu erschöpft, um eine Lösung zu skizzieren. Also weitermachen wie bisher. Obwohl sie in Bayern, Hessen, Bremen, Brandenburg und Sachsen abgestraft wurden, werden sie sich bis zum bitteren Ende voraussichtlich 2021 aneinanderklammern.
Katapultierte sich die SPD an ihrem Bundesparteitag im Dezember aus der grossen Koalition und käme es anschliessend zu Neuwahlen, müsste sie mit einem weit schlechteren Resultat als 2017 rechnen. Ihre beste Chance besteht darin, Finanzminister Olaf Scholz zum Vorsitzenden und damit faktischen Kanzlerkandidaten zu wählen – und zu hoffen, dass er sich bis zum regulären Wahltermin profilieren kann. So lauten wenigstens die Pläne von Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil, die inzwischen das eigentliche Kraftzentrum der Partei bilden. Nur eine Eruption der Basis kann ihr Kalkül durchkreuzen.
Kramp-Karrenbauer will vieles – nur keine raschen Neuwahlen
Die Union spekuliert zwar darauf, auch bei der nächsten Bundestagswahl stärkste Kraft zu bleiben. Die Grünen sind ihr allerdings dicht auf den Fersen, und die Zukunft ist längst nicht mehr so klar, wie sie nach dem Wechsel im CDU-Vorsitz von Angela Merkel zu Annegret Kramp-Karrenbauer erschien. Gegenwärtig ist völlig ungewiss, wer die Union in den nächsten Bundestagswahlkampf führen wird. Niemand hat grösseres Interesse an Kontinuität als Kramp-Karrenbauer. Sie braucht Ruhe, um ihre jüngsten Patzer vergessen zu machen. Ihre Gegner sind zu schwach oder zu vorsichtig, um sie jetzt aus dem Amt zu putschen.
In seinem satirischen Antikriegsroman «Catch-22» beschrieb Joseph Heller die ausweglose Lage einer Gruppe von US-Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Wer dem Einsatz entgehen wollte, musste als psychisch krank anerkannt werden. Wer sich als irre bezeichnete, war jedoch völlig gesund, weil nur Irre freiwillig in die Schlacht ziehen. Das perfekte Paradox, also Catch-22, beschreibt am besten die Lage von Union und Sozialdemokraten.
Regieren sie bis 2021 in ihrer gegenwärtigen Verfassung, werden sie weiter an Zustimmung verlieren und müssen mit einer umso schwereren Niederlage rechnen. Brechen sie hingegen aus dem Bündnis aus, erwarten sie derart viele Ungewissheiten, dass der jetzige Schwebezustand zunächst einmal weniger riskant erscheint.
Um den gordischen Knoten zu zerschlagen, müssten CDU/CSU und SPD Mut, Charisma und eine überzeugende Idee besitzen. Tugenden also, die in Berlin derzeit rar sind. Das Land steht am Rand einer Rezession, hat aber eine Regierung, die durch ihre inneren Widersprüche gelähmt ist und das Durchwursteln zur obersten Maxime erkoren hat. Deutschland steckt wirklich in einer Zwickmühle, und niemand scheint den Ausweg zu kennen – Catch-22.
Quelle: https://www.nzz.ch/meinung/die-afd-jagt-spd-und-cdu-die-landtagswahlen-im-osten-ld.1506942